2002 | Einweihung der Hostel-Rezeption in den Räumen der ehemaligen Kita

Fast zwanzig Jahre! An diesen schönen Fortschritt in der Entwicklung der Regenbogenfabrik erinnern wir mit einem Artikel aus der Festschrift zum 25jährigen Jubiläum der Regenbogenfabrik. Also: Nächstes Jahr das Feiern nicht vergessen!

Unsere Rezeption: Aus meiner Erinnerung.

Den Traum vom eigenen Hostel träumten 1997 Thomas und Susanne. Es wurde ausgebaut, umgebaut und mit Betten von Ikea und Billys konnte das „Sleep-Inn“ in den alten Musikübungsräumen mit 18 Betten eröffnet werden. Gemeinsam mit den 18 gesammelten Kuscheltieren konnten also Gäste aus aller Welt die Fabrik kennen lernen.

Die Organisation der Schlafplätze schien anfangs eher eine Nebenbeschäftigung im normalen Fabrikalltag zu sein. Die Gäste konnten im Büro buchen oder sogar bei Susanne zuhause anrufen. Eingecheckt wurde im Café.

Doch solche Gäste aus aller Welt wollen auch mit allen Raffinessen des „1×1 des Beherbergungsregelwerks“ behandelt werden, außerdem stellten sich die Besucher:innen als äußerst eigenwillig und kompliziert heraus. Gerne reiste mal ein Schlüssel mit nach Australien und der „eine Typ“ war dann auch mittels Anmeldezettel nicht mehr auffindbar – von seiner Zahlungsmoral gar nicht zu reden.

Probleme gab es auch mit der Organisation des Putzens der Gästezimmer – „Oh nein, schon wieder eine chaotische Gruppe – wer kann mal eben schnell putzen?“

Den ersten Schritt in das – immerhin schon etwas organisierte – Chaos machte Nazmiye. Seit 2000 „schmiss“ sie den Gästebereich und war von da an die „Gute Seele“ des Ganzen. Kurz darauf kam dann im neuen Eifer des Gefechts der Ausbau, denn mit 18 Betten ist keine Gruppe oder Schulklasse versorgt. Also noch mehr Typen, die sich nur mit „Michael“ eintragen, englisch sprechen wollen und die immer wieder spontan ihre und somit unsere Pläne ändern.

Es ließ sich mit nun 34 Betten nicht mehr leugnen, eine Rezeption musste her!

Die ersten Ideen dafür waren kurios und klangen recht abenteuerlich. Es fing bei der Raumsuche an, die „Kita unten?“ – da waren Räume unlängst frei geworden. Als fragwürdig erwies sich auch die Personalsuche mit Vorschlägen wie: „Uwe wird unser Herbergsvater und wohnt auch gleich in der Rezeption.“

Ich selbst war gerade beim Versuch gescheitert, die große weite Welt zu erobern und war deswegen schnell davon begeistert, diese große weite Welt einfach hierher zu holen. So konnte ich das Projekt Rezeption im August 2002 starten. Leider hatte ich zu diesem Zeitpunkt weder einen eigenen Arbeitsplatz – ich arbeitete als „Gast“ im Büro“ – noch eine Ahnung, was da eigentlich theoretisch und praktisch auf mich zukommen würde. Die „Kita unten“ war irgendwann doch unsere Wahl. Die Baugruppe renovierte alles und wir, inzwischen hatte ich Mimi mit im Boot, setzten uns mit eigener Pinselkraft noch mit einer gelben Bordüre gegen „freundlich lichtes tauben-blau-grau“ durch. Wir konnten also loslegen.

Und nun? Wie funktioniert das mit einer Rezeption eigentlich? Glücklicherweise mussten wir nicht bei Null anfangen, denn das Büro lieferte uns schon erprobte Basis-Standards, auf denen wir aufbauen konnten. Somit begann der noch heute andauernde Prozess des „Learning by Doing“ für uns.
Auf „try“ folgte oft „error“; die Gäste hörten nicht auf, kompliziert und unberechenbar zu sein und hinzu kam, dass wir ein Team werden mussten. Wir wurden zur bunten Mischung von Menschen mit verschiedenen Erfahrungen und verschiedenen Alters. Die „Randgruppenförderung“ führte uns zusammen, 55 Jährige lernten von 21 Jahre alten, gerade erst aus der Schule geflohenen, Grünschnäbeln und andersrum.

Die alten Standards wurden in den letzten 3 Jahre verändert und manche Neuerungen hätten wir uns selbst nie so vorstellen können – an vielen Stellen ist das Alte aber noch zu erkennen!

Und es funktioniert:
Wir professionalisieren uns tatsächlich; die Anforderungen steigen und obwohl das Team häufig wechselte, gibt es jetzt einen festen (Frauen)Kern. Jede „Neue“ im Boot bringt neue Ideen mit und es kommt so nie zum Stillstand in der Rezeption. Ich bin sehr froh über die Entwicklung, die unsere Rezeption inzwischen gemacht hat – auch wenn ich mich oft darüber geärgert habe, dass wir nicht nur die Gäste betreuen, sondern auch die erste „offene Tür“ auf dem Hof und somit auch das große „I“ sind.

Aber erstens kommt alles anders und zweitens, als man denkt. Und ich bin stolz und froh, dass wir einen wichtigen Platz auf der Fabrik eingenommen haben. Mimis und mein Baby, unsere Rezeption, wächst immer weiter und ich bin auch stolz, nicht mehr nur „Fabrikkind“ zu sein, sondern etwas Gutes für die Fabrik zu tun.

Jenny Schill

1983 Umbauplanung Reichenberger Straße

Wir Anrainer*innen erkennen es leicht: es ist die Variante B umgesetzt worden. Die Bäume werden froh drum sein, haben sie doch ein bisschen großzügiger freie Fläche um die Füße bekommen. Und dem ruhenden Verkehr wurde weniger Platz eingeräumt, als in Variante A vorgesehen. Radler*iinnen wiederum wären vielleicht lieber weiter weg vom Autoverkehr. Gar nicht so leicht, Kompromisse zu finden.

Titelbild: Martin Cames

Die Sorauer Straße

von Werner von Westhafen

Wäre es nach James Hobrecht gegangen, der 1862 den Straßenplan für das neue Stadtviertel im Südosten Berlins zeichnete, hätte es die Sorauer Straße nie gegeben. Hobrecht hatte nicht damit gerechnet, dass die neue Hauptstadt derartige Menschenmassen anzog und deshalb die Grundstücke viel zu großzügig angelegt wurde, mit genügend Platz für lichte und grüne Hinterhöfe. Nicht selten erstreckten sich die einzelnen Bauparzellen vom Straßenrand 200 Meter weit ins »Landesinnere«.

Zehn Jahre später war jeder Quadratmeter Wiese Gold wert. Wo sich der Stadtplaner Gänseblümchen und spielende Kinder vorgestellt hatte, wuchsen Mietskasernen in den Himmel, reihte sich Hinterhof an Hinterhof. Um diese lichtscheue Konstruktion zu umgehen, plante der Handschuhmacher Emil Paul Haberkern, der 1871 gleich mehrere Parzellen Bauland zwischen dem Görlitzer Bahnhof und der alten Akzisemauer gekauft hatte, um am Berliner Goldrausch teilzuhaben, eine kleine Privatstraße, die sein 5 Hektar großes Grundstück zwischen Lübbener und Oppelner Straße in der Mitte halbieren sollte.

Die Stadtväter allerdings machten einen Strich durch die Rechnung des ehemaligen Handwerkers: Sie verlangten statt einer privaten den Bau einer öffentlichen Straße mit ordnungsgemäßem Pflaster und Kanalisation. Dafür hatte der Handschuhmacher kein Geld mehr übrig, aber da die bereits entstehenden Gebäude nun keinen direkten Zugang zur Straße mehr hatten, wie es die Brandschutzbestimmungen forderten, wurde der Bau kurzerhand gestoppt. Erst als Haberkern seine neuen Häuser zu »verlängerten Seitenflügeln« der Gebäude an der Görlitzer Straße erklärte, ließ man ihn weiterbauen.

So entstanden innerhalb eines Jahres mehrere 100 Meter lange Seitenflügel. Doch noch im selben Jahr war Haberkern gezwungen, einen Teil seiner Immobilien an die Rheinische Baugesellschaft zu verkaufen, die genügend Mittel besaß, um auch die Straße zwischen den neuen Häusern zu finanzieren. 1874 erhielt sie, ebenso wie die Nachbarstraßen, den Namen einer schlesischen Ortschaft: Sorauer Straße.

Bis die Vorderhäuser standen, die sich kaum von Hinterhäusern und Seitenflügeln unterschieden, vergingen aufgrund einer kleinen Finanzkrise noch einige Jahre, aber am Ende setzte die Baugesellschaft die Idee des Handschuhmachers in die Tat um, mit kleinen Wohnungen großen Profit zu erwirtschaften. »Die beiden Blöcke diesseits und jenseits der Sorauer Straße waren baulich in einer Weise erschlossen, die durch maximale Wohnungsdichte maximalen Profit versprach«, schreibt Hanno Hochmuth in seiner 2017 erschienenen Kiezgeschichte. Ein Beispiel für die berühmte Kreuzberger Mischung aus vornehmen Vorderhäusern, günstigen Seitenflügeln und Gewerbehöfen war die Sorauer Straße nicht.

Auf einer Länge von 225 Metern waren 31 Häuser mit insgesamt 805 fast identischen Wohnungen entstanden. Ein ideales Studienobjekt für die Arbeiter-Sanitätskommission, die wegen des Ausbruchs der Cholera 1893 die neue Mietskaserne genauer untersuchte. Dabei stellte sich heraus, dass »nicht weniger als 3383 Menschen« in der Straße wohnten, die meisten in winzigen Einzimmerwohnungen, in denen auch die Küche noch als Bettstatt genutzt wurde. Erwachsene teilten sich die Matratzen oft mit Kindern, in jeder dritten Wohnung wurden zusätzlich Betten an so genannte Schlafgänger vermietet. »Bei einem Viertel der Wohnungen kamen auf ein Klosett mehr als 10 Personen«, häufig standen den Mietern »weniger Kubikmeter Raum zur Verfügung als in der Haftanstalt Plötzensee«, deren Zellen laut Verordnung mindestens 28 Kubikmeter aufweisen mussten.

Trotz der kritischen Analysen änderte sich der Lauf der Geschichte nicht. Nach der Jahrhundertwende stieg die Zahl der Mietparteien in der Straße sogar weiter an. Erst als die Männer in den Krieg zogen, wurde es ruhiger. Doch dem Elend des Kasernenlebens folgte das Elend des Zweiten Weltkrieges.

Die Bomben verschonten die Häuser der Straße, dafür wollten die Stadtplaner sie nach dem Krieg abreißen. Doch es wuchs Widerstand, denn den vor der Bundeswehr flüchtenden Einwanderern der Siebzigerjahre kamen die günstigen Mietwohnungen im Schatten der Mauer gerade recht. In der Sorauer Straße wohnten jetzt, wie Hochmuth schreibt, »Alte, Alternative und Ausländer.« Die bescheidenen Wohnungen, einst kleiner als Gefängniszellen, wurden zum Freiheitsraum und zum Quartier Andersdenkender. Künstler siedelten sich an, vor der »maroden Kulisse« des schmucklosen Wohnblocks wurde »Die Kinder aus Nr. 67« gedreht, und in der Nr. 28 erschien ( vgl. Kreuzberger Nr. 43) der Südost Express, herausgegeben von der Bürgerinitiative SO 36, die sich formierte, als 1977 die Alte Feuerwache in der benachbarten Reichenberger Straße abgerissen wurde.

In der ersten Ausgabe der Alternativ-Zeitschrift hieß es: »Haberkern würde es nicht schwer haben, sich heute in der Sorauer Straße zurechtzufinden.« Nicht nur, dass es in der Straße noch immer so aussah, wie im 19. Jahrhundert, »auch die Spekulantenverhältnisse seien noch ähnlich« gewesen. Schon damals, konstatiert 40 Jahre später Hanno Hochmuth, befürchteten die Herausgeber des Südost Express die »Verdrängung der einkommensschwachen Bewohner«.

Zu Recht, denn tatsächlich wurden auch die Häuser der Sorauer Straße nach dem Fall der Mauer saniert. Das einstige Elendsquartier, das vom Abriss bedrohte Wohnviertel an der innerdeutschen Grenze, ist für Investoren inzwischen längst wieder attraktiv.

aus der Kreuzberger Chronik vom April 2018

wir danken den Herausgeber:innen!

Das Abschreibungs-Dschungelbuch

Geschäfte mit dem Wohnungsbau

von Micha Ulsen und Susanne Claassen

DAS ist doch mal eine schöne Entdeckung! Das nützliche Aufklärungsbuch in Comicform aus dem Jahr 1982, längst inzwischen vergriffen, kann im Internet wiederentdeckt werden!

https://www.anstageslicht.de/themen/wohnen/das-abschreibungs-dschungelbuch/

Das Buch wollte damals eine Diskussion lostreten. Was auch gelang. Änderungen an diesem paradoxen Finanzierungssystem gab es aber nur teilweise und die nur nach und nach. Nun kann alles in kurzer oder langer Form heruntergeladen werden.

„Egal, was Sie sich anschauen: Viel Spaß beim Lesen wünschen Johannes Ludwig (alias Micha Ulsen) und Cordula Ludwig (alias Susanne Claassen)“

chz