2001 | Interview mit Marten

von Ewa Maria Slaska

Marten gehört zu der Gruppe, die am 14. März 1981 das Haus und die Fabrik besetzte.

Geboren 1949, Akademiker, mit nicht abgeschlossenem Studium als Germanist und Politologe an der FU. Er kam 1971 nach Berlin, angezogen von der „magischen Kraft“, die diese Stadt vor allem die Freie Universität und insbesondere der „OSI“ – Otto-Suhr-Institut, aber auch der sich in Kreuzberg allmählich aufbauende alternative Lebensstil, auf alle politisch engagierten Menschen der Bundesrepublik ausübte.

Er studierte an der FU, arbeitete als Betreuer im Knast und in Jugendprojekten: allesamt Aufgaben, die dem Geist der Zeit entsprachen, genauso wie die Ausbildung zum Erziehen, die er nach Abbruch des Studiums absolvierte.

Man versuchte, die neuen Lebensformen zu entwickeln und dazu gehörte, dass die Männer die sog. Frauenberufe ausüben sollten und umgekehrt.

Marten meint, dass ein anderes, ebenso wichtiges Merkmal dieser Zeit die verschiedenen kommunenartigen Wohnformen waren. Er wohnt zuerst, noch in seiner Heimatstadt Braunschweig, in einer der ersten Wohngemeinschaften, die es dort gab, dann in Berlin in einem Studentenwohnheim und wieder in einer WG in Kreuzberg. So bildete das Zusammenleben mit einer Gruppe in einem besetzten Haus eine durchaus natürliche Entwicklungsstufe des gesellschaftlichen Miteinanders, die es zu erproben galt.

Fast sofort begann er Pläne für das breitangelegte Kinderbetreuungsprogramm mit zu entwickeln, wie z.B. einen Jugendklub für die türkischen Jugendlichen aus der Nachbarschaft. Diese waren 12 bis 18 Jahre alt, zu alt also für die Kita. So ist der „FC Regenbogen“ entstanden, der fabrikeigene Fußball Club.
Bevor er in der Kita arbeitete, machte er ein Praktikum in einem Projekt für Schüler aus sozial benachteiligten Milieus und bekam später eine ABM-Stelle in der Jugendkulturarbeit.

Wie es aber in der Fabrik typisch ist und zu dem alternativen Lebensstil gehört, bleibt man nie bei einer Beschäftigung auf Lebenszeit, sondern probiert neue Formen und neue Betätigungsfelder aus. So ist er nach fünf Jahren Arbeit in der Kita ins kalte Wasser gesprungen: in die Organisation des Kinderkinos; eine Arbeit, die er bis heute macht.

In dieser Zeit hat er sich mit Susanne befreundet, sie waren ineinander verliebt, zogen zusammen, alle fünf: Susanne, ihre zwei Töchter, er und seine Tochter. Sie haben einen gemeinsamen Sohn und wohnen immer noch zusammen, obwohl einmal auch eine Trennung eintrat und sie alle beide mit jemand anderem liiert sind.

Marten gehört zum Vorstand der Regenbogenfabrik und arbeitet im Team des RegenbogenKinos.

Ich habe die Gelegenheit gehabt, Marten und seine Freundin Chris besser als viele andere in der Fabrik kennenzulernen, weil sie zu der „Arbeitsgruppe CD“ gehörten. Chris ist eine fröhliche Persönlichkeit, Marten eher nachdenklich.

Ich hatte immer das Gefühl, er sei ein ausgeglichener, glücklicher Mensch. Auch glücklich verliebt. Ich habe jedoch nicht gefragt. Vielleicht bin ich altmodisch, aber ich stelle diese Frage lieber den Frauen als den Männern. Man wusste aber, dass ich kreuz und quer und über die Fabrik laufe und stets frage: Bist du glücklich?

Es war Marten, der mir nach unserem Gespräch, als ich schon gehen wollte, sagte: „Warum fragst Du mich nicht, ob ich glücklich bin? Ich bin glücklich. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche in und durch die Fabrik bekomme: Arbeit, Geld und Beziehung.“

2001 | Interview mit Anette

von Ewa Maria Slaska

Anette, Erziehungswissenschaftlerin, meint, dass die Teilnahme an der Besetzung des Hauses und der Fabrik in der Lausitzer Straße nicht nur die Entscheidung war, die ihr Leben bestimmte, sondern auch, dass es für sie die beste Entscheidung ihres Lebens war.
„Mit meiner Entscheidung bin ich glücklich. Ganz viel von meinem Leben ist mit der Regenbogenfabrik verknüpft.“

Sie war aktiv in der BI (Bürgerinitiative BI SO36), die sich gegen „Kahlsanierung“ und bürgerfremde Baupolitik engagierte. Plötzlich ging es ganz schnell: Am Mittwoch, den 11.3.1981 wurde der BI bekannt, dass der Senat am Montag mit den Immobilienspekulanten Vogel und Braun einen Vertrag unterschreiben wollte und damit die Fabrikgebäude in der Lausitzer Straße zum Abriss freigegeben wäre. Daraufhin traf sich am Donnerstag die Gruppe der Besetzer und schon zwei Tage später, am Samstag, ist besetzt worden.

Doch im September 1981 kam es zu einem vom benachbarten Kiosk angestifteten Angriff der Neonazis und einem Brandanschlag. Die Arbeit vieler Monate lag brach, viel schlimmer aber war die Tatsache, dass die latente Bedrohung Wirklichkeit wurde. Dies zwang zum Überdenken bisheriger Entscheidungen.

Anette kann sich sehr gut an diese Nacht und ihre Gefühle erinnern. Ihre Tochter Jenny „war gerade mal drei Monate alt“, schrieb sie später in ihrer Magisterarbeit.

„Nicht das Haus brannte, sondern die Fabrik, aber wir wussten nicht, ob das Feuer auf das Haus übergreifen würde. Die Feuerwehr kam Ewigkeiten nicht und hilflos mussten wir zusehen, wie all unsere Träume und Hoffnungen in Rauch und Feuer aufzugehen drohten. Zähneklappernd, wütend und verzweifelt stand ich da, barfuß, in Jeans und T-Shirt, mit meinem Baby im Arm.
Tage später, als der Schock langsam nachließ, wusste ich nicht, ob die Gefahr, in der Regenbogenfabrik wohnen zu bleiben, nicht zu groß war. Ich entschloss mich zu bleiben, so wichtig waren mir das Projekt und die Leute in dem halben Jahr geworden. In den folgenden Jahren der quälenden unsicheren Projektsituation, die mehrmals fast das Aus bedeutet hatte, erinnerte ich mich immer wieder an diese eine Nacht:

Sie wurde mir zur Motivation für mein sämtliches Engagement für das Projekt, egal wie aussichtslos alles schien – es durfte nicht alles umsonst gewesen sein …

Und es war „nicht alles umsonst“.
Wenn das Projekt heute besteht und auch blüht, ist es gerade der Gruppe derer zu verdanken, die sich damals fürs Bleiben und Verhandeln entschlossen haben. Anette ist eine der wichtigsten „Verhandlerinnen“ geworden, die jahrelangen Verhandlungen mit dem Berliner Senat, den Eigentümern und dem Bezirksamt führte. In gewisser Weise tut sie das noch heute, verhandeln für den Erhalt der Regenbogenfabrik, wenn auch die Partner heute Arbeitsamt, Servicegesellschaft oder Stiftung heißen. Sie arbeitet weiterhin in der Fabrik und wohnt im Haus.

Ihr Engagement im Kiez setzte ihrem Studium an der Uni erstmal ein Ende, das wahre Leben war wichtiger geworden als alle Theorie. Aber nach neun Jahren Aktion und vielen Kämpfen wurde der Wunsch nach Reflexion wieder wichtiger. Anette begann, wieder zu studieren und beendete ihr Studium 1993 mit der Magisterarbeit „Das Kinder-, Kultur- und Nachbarschaftszentrum in Berlin-Kreuzberg. Soziale Einrichtung oder sozialer Lebensraum? Eine Projektgeschichte“, in der sie neun Jahre Regenbogenfabrik aus einer „unorthodoxen“ persönlichen Sicht beschrieben hat.

2007 | Für Anette zum 50. Geburtstag

Lustig, lustig, ihr lieben Brüder,
leget eure Sorgen nieder,
trinkt dafür ein warmes Becks,
trinkt dafür ein warmes Becks.

Auf die G´sundheit aller Schwestern
Seid nicht traurig über gestern!
Heut soll große Party sein!
Heut soll große Party sein!

Lustig lebt in Saus und Brause,
Weil wir jetzo sind am Schmause!
Arbeit drücket heut nicht viel!
Arbeit drücket heut nicht viel!

Geld gib´s ja in Hüll und Fülle,
Alles nehmen ist unser Wille,
Der Fabrik soll es halb sein!
Und für dich soll es halb sein!

Ei, was hast du hier geschaffen,
Vogel/Braun konnt nimmer raffen,
Weg wer kommanditieren will!
Weg wer kommanditieren will!

Wir sind alle freie Leute,
was uns sicher nie gereute,
Konsens das ist gut und recht,
Konsens das ist gut und recht.

Schlagt die Fässer ein, laßt´s laufen!
Jetzo heißt es tapfer saufen –
`s nächste Plenum kommt bestimmt!
`s nächste Plenum kommt bestimmt!

Mit diesem Lied auf die Melodie eines Gesellenliedes zeigten sich auch deutsche Handwerker mit der Pariser Commune solidarisch – auch auf die Gefahr hin, selbst eingekerkert zu werden.

Die Pariser Kommune des belagerten Paris markierte sozialgeschichtlich den Beginn einer neuer Epoche. Nach Sebastian Haffner ging es dabei zum ersten Mal um Dinge, um die heute in aller Welt gerungen wird: Demokratie oder Diktatur, Rätesystem oder Parlamentarismus, Sozialismus oder Wohlfahrtskapitalismus, Säkularisierung, Volksbewaffnung, sogar Frauenemanzipation – alles das stand in diesen Tagen plötzlich auf der Tagesordnung.
Aus diesen Gründen wird die Zeit der Pariser Kommune verschiedentlich auch als ein Manifestationspunkt der Moderne bezeichnet. (Schnell mal bei Wikipedia rausgefischt.)

Kleine Umdichtungen durch: Christine, Hilde, Willi, Brigitte, Mimi, Jonny, Maria, Andrea, Dorothea, Anette, Christine, Maja

Foto: Ulla Tasrini

In memoriam – Christian Herwartz

Dies schrieb ich 2004 an Christian: Es ist über 20 jahre her, dass ich bei euch mal gewesen bin. es war kurz vor der hochzeit von johanna und karl. sie hatten uns beide gefragt, ob wir ihre trauzeugen sein wollten. deswegen hatten wir uns verabredet. wir wollten besprechen, was wir in diesem gottesdienst sagen wollten.

ich kam also in die oppelnerstraße, stieg die treppe hoch und stand vor eurer tür. ich klingelte. erst mal passierte nix. dann öffnete jemand und sagte: „ach du warst das. du mußt doch gar nicht klingeln, hier ist die tür immer offen.“ damit hatte ich nicht gerechnet. die tür hatte einen knauf, aber der ließ sich drehen. da war eine wohnung, die stand allen offen, keine furcht, das da „was wegkommt“. das hat mich sehr beeindruckt. und über die lange zeit habe ich erfahren dürfen: offen steht nicht nur eure tür, sondern auch eure herzen.

Heute, voller Traurigkeit, finden wir schwer die richtigen Worte. Dabei gibt es so viel zu erinnern zur Verbundenheit, die Christian zu einigen Menschen hier im Haus hatte. So erinnern wir statt dessen an einen Artikel von Philipp Gessler, der 2016 für die taz ein Portrait von Christian verfertigt hat.

Praktizierte Nächstenliebe in Berlin:
Das Heilige auf der Straße

Fast 40 Jahre lang stand seine Wohnungstür in Berlin-Kreuzberg jedem offen. Der Jesuit Christian Herwartz wird jetzt etwas Neues anfangen.

BERLIN taz | Ist das etwa der liebe Gott? Jedenfalls sieht der Obdachlose so aus – lange weiße Haare, Vollbart, wallendes Hemd und eine weite Hose. Etwas irritierend ist der zackige Spiegel, der an einer Schnur um seinen Hals baumelt, die nackten Füße stecken in Badeschlappen. Er drückt auf die Klingel der „WG Herwartz“ am Eingang des Hauses Naunynstraße 60, gleich neben der Kneipe Der Trinkteufel in Berlin-Kreuzberg.

Die Tür öffnet sich, ohne Nachfrage. Im dritten Stock steht die Wohnungstür auf, verschiedene, meist nicht mehr ganz junge Menschen, tragen Tassen und Teller in das WG-Wohnzimmer. Es ist Samstagmorgen, und wie immer samstags zwischen halb zehn und halb zwölf, ist jeder, der mag, zu einem offenen Frühstück eingeladen. An der langen Holztafel, an der etwa 15 Leute sitzen, ist noch ein Platz frei, neben Christian Herwartz. Der liebe Gott neben dem Heiligen von Kreuzberg.

Dass Herwartz ein Heiliger von heute sein könnte, das hat Pater Klaus Mertes mal angedeutet, ebenfalls ein mutiger Jesuit, der als Rektor des Canisius-Kollegs vor sechs Jahren den Missbrauchsskandal in seinem Gymnasium aufdeckte – und damit die katholische Kirche im Innersten erschütterte. Aber was ist schon heilig?

Charme einer Studi-WG

Beim Samstagsfrühstück thront Christian Herwartz jedenfalls ein wenig wie ein Buddha in der Mitte der Tischrunde – wer kann, bringt etwas zum Essen mit. Seit 1978 lebt der Priester in Kreuzberg.

Hier siedelte sich seine kleine Jesuiten-Wohngemeinschaft an, die noch heute den gemütlich-schmuddeligen Charme einer Studenten-WG besitzt und aus zwei übereinanderliegenden Dreizimmerwohnungen besteht. An den Wänden Poster, die ein Ende der Abschiebungen von Flüchtlingen fordern. In der Küche hängt über der Spüle eine Postkarte: „Niemand hat die Absicht, einen Flughafen zu bauen.“ Eine Spülmaschine gibt es nicht.

Die WG ist über die Jahre eine Anlaufstelle für alle geworden, die eine Bleibe für eine oder auch mehrere Nächte brauchen. Wenn die Wohnung nicht voll belegt ist, darf jeder bleiben, so lange er will. Manche blieben Jahre. Menschen aus fast 70 Nationen haben auf diese Weise in der WG Herwartz eine zeitweilige Unterkunft gefunden.

In der Tradition der Arbeiterpriester

Niemand wird hier gefragt, woher er kommt und warum er da ist. „Das ist eine Polizeifrage“, sagt Herwartz mit unerwarteter Schärfe, die man anfangs seiner sanften Stimme gar nicht zugetraut hätte. Der Jesuit schläft in einem Siebenbettzimmer mit den Leuten, die sich gerade in der WG aufhalten. Seit Jahrzehnten macht er das so. Weltweit gesehen, sei das doch völlig normal, erklärt er – und wenn er mal Ruhe oder Privatsphäre braucht, geht er eben für ein Stündchen in den Park.

Christian Herwartz, 1943 in Stralsund geboren, ist ein massiger Mann mit Halbglatze und langem weißen Bart – die ideale Besetzung für eine Klosterbräuwerbung. Er trägt Pulli und Hose – nichts, was anzeigt, dass er Priester ist, nichts, was ihn von anderen unterscheidet.

Seit mehr als 40 Jahren ist er Jesuit, aber keiner der vergeistigten Sorte. Das sieht man an seinen Händen: Es sind große Arbeiterhände, und das ist kein Zufall, denn Jahrzehnte lang war Herwartz ein Arbeiter. Nach dem Abbruch der Schule ging er – sein Vater war im Krieg U-Boot-Kommandant – in Kiel auf eine Werft und lernte Dreher. Später holte er das Abitur nach und arbeitete ab 1975 für drei Jahre in Frankreich als Arbeiterpriester.

Das Tattoo

Arbeiterpriester gab und gibt es vor allem in Frankreich, denn während des Kriegs folgten katholische Priester den nach Deutschland verschleppten französischen Zwangsarbeitern, um ihnen beizustehen. Dass sie Priester waren, durfte niemand wissen – sonst drohte ihnen das KZ. Noch heute halten Arbeiterpriester ihre Weihe in der Regel verborgen, da ihnen Entlassung droht, wenn ihre priesterliche Funktion im Betrieb öffentlich wird. Sie gelten oft als Sozialisten und Interessenvertreter der Belegschaft.

Auch Herwartz hielt seine Identität als Arbeiterpriester bei Siemens in Berlin bis zum Jahr 2000 geheim – dann wurde er entlassen. Der Priester, der sich selbst als „68er“ bezeichnet und schon mit RAF-Leuten in Haft saß, sieht sich als Antikapitalist. Den Mauerfall etwa bezeichnet er als „feindliche Übernahme“ des Ostens: „Der Kapitalismus hat gesiegt.“ Das Äquivalent zum Auftrag Gottes an Mose, sein Volk aus Ägypten zu führen, wäre heute vielleicht: „Du sollst Deutschland aus dem Kapitalismus führen“, überlegt Herwartz. Mose ist eine wichtige Figur im Denken des Jesuiten: Den brennenden Dornbusch, in dem Mose Gott erkannte, hat Herwartz sich auf seinen linken Arm tätowieren lassen.

Das Nichtfragen nach dem Woher und Wohin seiner Gäste ist Prinzip in der Herwartz-WG. Denn für manche hätte sich die Polizei sicher interessiert. Herwartz deutet auf das Bild eines vielleicht zehnjährigen blonden Mädchens auf der gegenüberliegenden Wand: Das Mädchen kam hierher, nach vier Monaten auf der Straße, mit ihrem Vater – juristisch gesehen, war es eine Entführung. Die alkoholkranke Mutter der Kleinen sollte nicht wissen, wo sie waren. Dem Mädchen drohte, erzählt Herwartz, der Missbrauch durch ihren neuen Stiefvater. Der war wegen solcher Taten schon verurteilt worden. Missbrauch, Flüchtlinge, Obdachlosigkeit, Haft – in all den Jahren haben sich durch die Gäste in der Kreuzberger WG viele Konflikte in der Gesellschaft früh abgezeichnet, sagt Herwartz.

Von Camara bis Woelki

Und vieles ist zum Weinen. Das Mädchen, das von seinem Vater entführt worden war und in der WG lebte, ist mittlerweile tot. Gestorben bei einem Brand in der Wohnung ihrer Mutter, zu der sie nach zwei Monaten in der WG doch zurückkehren musste. Es ist eine traurige Wand, an dem das Bild des Mädchens hängt. Hier befinden sich die Fotos der Toten der WG. „Sie sind alle noch da“, sagt Herwartz beim Frühstück.

Die Toten sind willkommen, die Lebenden auch – selbst wenn es kirchliche Würdenträger sind. In der Kreuzberger WG-Küche saßen schon der vorherige und der jetzige Erzbischof von Berlin, Woelki und Koch – oder etwa der linke Befreiungstheologe und Erzbischof Dom Helder Camara aus Brasilien. Er war der erste Oberhirte, der die WG besuchte, betont Herwartz. Das passt. Denn der Jesuit hält nicht viel von der verfassten katholischen Kirche in Deutschland: Sie sei praktisch die einzige katholische Kirche weltweit, bei der Geld und Glaube verheiratet seien, sagt er. Die Kirchensteuer habe eben „ihre Folgen“, ergänzt er trocken, „ohne sie wären wir viel freier“.

Exerzitien und Reisen

An diesem Samstagmorgen findet das vorerst letzte Frühstück mit Herwartz statt, am Ende dieser Woche will er nach fast 40 Jahren aus der WG ausziehen. Die Samstagsfrühstücke gehen weiter, nur eben ohne ihn. Als sein Mitbruder Franz vor zwei Jahren starb, wurde ihm klar, dass nun ein Generationswechsel nötig wird. Was er danach macht? „Eine Idee habe ich noch nicht“, sagt Herwartz. Er wolle eine kleine Lesereise für sein neuestes Buch machen, Exerzitien geben und sich bei Leuten bedanken, die ihn über so viele Jahre begleitet hätten. Eine davon ist eine Freundin, die in der WG wohnte und nun einen Bauernhof in Süddeutschland hat – der Hof mit ein paar Kühen findet sich als kleines gemaltes Bild an einer Wand des Wohnzimmers. Es sieht nach Heimat aus.

Beim Frühstück taucht plötzlich Alain auf, ein schmächtiger, klappriger Mann, der gerade aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Er war todkrank. Alain bricht fast die Stimme, als er sagt, er hätte doch noch einmal vorbeikommen wollen. Herwartz führt ihn mit seinen riesigen Händen fast zärtlich zu einem freien Stuhl. Um ihn aufzuheitern, singt ein indischer Gast mit eindrucksvoller Stimme am Frühstückstisch ein bengalisches Liebeslied. Niemand versteht ein Wort, alle verstehen alles.

Mit einigen Mitbrüdern hat Herwartz die interreligiösen „Straßenexerzitien“ entwickelt, die mittlerweile weltweit praktiziert werden. Ein Thema, über das er sich gerne auslässt. Die Idee dahinter ist, sich für diese geistigen Übungen nicht ein paar Tage lang in ein ruhiges Kloster mit Vollpension in einer idyllischen Landschaft zurückzuziehen. Sondern genau das Gegenteil zu versuchen: eine Meditation, eine Reflexion, vielleicht sogar das Erlebnis einer Gottesnähe im Lärm, im Dreck und im Elend der Großstadt zu suchen – etwa vor dem Abschiebegefängnis in Grünau, wo Herwartz mit anderen seit vielen Jahren gegen die deutsche Flüchtlingspolitik demonstriert und betet.

Das Fremde zulassen

In einem Aufsatz zum jüngsten von Christian Herwartz herausgegebenen Buch hat das Pater Mertes einmal so beschrieben: „Auf der Straße gibt es Gut und Böse, Begegnung und Gewalt. Die Gewaltverhältnisse, die die Armen auf die Straße drücken, wiederholen sich auf der Straße. Doch mittendrin kann ein Dornbusch brennen, der nicht verbrennt, mittendrin auf der Straße, wo alles offen liegt.“

Es gehe dabei darum, sagt Herwartz, wie Mose vor dem brennenden Dornbusch die Schuhe auszuziehen, was bedeutet: sich ungeschützt einzulassen auf den Ort oder die Begegnung, die fremd ist, aber heilig sein könnte. Herwartz sucht das Heilige auf der Straße. Er findet es in jedem Menschen.

https://taz.de/Praktizierte-Naechstenliebe-in-Berlin/!5292699/

Viel über Christian ist auch in Wikipedia zu erfahren.

https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Herwartz

Vielen Dank an Monika Matthias für die ERinnerung an dieses Interview:

https://www.youtube.com/watch?v=J0OoA_112oE

Beitragsfoto: Wolfgang Borrs