Einige Rätsel geben wir uns manchmal auf. Wer von einem introvertierten Menschen nicht viel weiß, hat nicht genug gefragt. Als Ralf plötzlich nicht mehr unter uns war, haben wir festgestellt, dass wir von seinem Leben jenseits der Fabrik nichts wissen.
Doch das, was wir von ihm wussten, war aufregend genug. Als 25-jähriger begann er als Erzieher in der Kita zu arbeiten. Bis er eine Auszeit brauchte, die führte ihn nach Skandinavien. Als er nach einem Jahr zurückkehrte, wollte er nicht mehr in die Erzieherroutine zurück. Er wollte kreativ arbeiten, ohne sich dem Korsett einer Vorschulbildung zu unterwerfen. So wurde er Besetzer bei Besetzers. Ganz hinten, wo heute die Kantine residiert, war Leerstand. Denn wir hatten bis dahin keine Möglichkeit gehabt, die Räume herzurichten. Ralf waren sie so, wie waren gerade richtig. Er besorgte einen großen Tisch, einen Brennofen und jede Menge Ton. Und so konnte es losgehen. Die Kinder kamen gerne und es ist nicht einzuschätzen, wie viele Aschenbecher dort produziert wurden.
Aber mit Ralf konnte auch gesägt, geleimt, geraspelt werden. Ein Schlangentisch aus der Werkstatt hat noch Jahre im Hostel gestanden. Noch immer gibt es einen Fernsehtisch in den Umrissen von Australien.
In den Schiurlaub ist er mitgekommen. Langlauf war seine Leidenschaft. Ganz für sich, die anderen aus der Hüttengemeinschaft wuselten über die Piste. Und hinter der Hütte hat er dann nachmittags mit den Kindern ein echtes Iglu gebaut.
Im Dezember 2008 verabschiedete er sich in den Urlaub, am 6. Januar wurde er wieder erwartet. Als er nicht kam, sich nicht meldete, war den Kolleg:innen gleich klar, dass da etwas nicht stimmt. Niemals wäre Ralf so kommentarlos weggeblieben. Sie alarmierten die Feuerwehr, die ihn in seiner Wohnung fand. So ist er aus dem Leben gegangen
Gemeinsam mit den Leuten von der Ölberg-Gemeinde, wo er inzwischen auch arbeitete, versuchten wir den unbegreiflichen Abschied zu bewältigen. Zum Abschied trafen wir uns noch mal an dem von ihm gebauten funktionsfähigen Lehmbackofen im Garten der Ölbergkita.
Kostas hat als Stadtplaner und Architekt die Regenbogenfabrik von Anfang an begleitet. Ja, erforscht hat er sie sogar schon vor der Besetzung. Von wie vielen Stunden fachlicher Begleitung wir profitiert haben, das lässt sich gar nicht ermessen und wie unendlich viele wichtige und tolle Fotos aus unserer Vergangenheit stammen von ihm. Viele könnt Ihr auch im Archiv des FHXB-Museums finden. Im Jahr 2008 war Kostas schließlich von uns beauftragter Architekt bei der Instandsetzung des zentralen Kulturteils (Kino, etc.) und dem Neubau des Kantinen‐ und Hostel‐Bereichs.
Guter Freund, gesehen haben wir dich dann oft noch beim Griechischen Salon, da wusstest du schon, dass der Abschied bevorstehen würde.
Lassen wir an dieser Stelle Kostas selber zu Wort kommen mit seinem Beitrag zum 25-jährigen Jubiläum der Regenbogenfabrik:
Im September 2004 besuchte ich wieder die Regenbogenfabrik, anlässlich des „Tages des offenen Denkmals“. Zum ersten Mal nach 14 Jahren! Ich war gespannt, was ich vorfinden würde.
Ich kannte sie gut, die Regenbogenfabrik. Es war ja ein „Projekt“ der IBA, der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987, wo ich damals beschäftigt war und ich hatte vom Anfang an dieses Projekt „betreut“, von der Besetzung der Wohn- und Gewerbegebäude im Jahr 1981 über die Gestaltung des Nutzungskonzeptes bis hin zu den Verhandlungen mit Eigentümern und Senatsverwaltungen – mit dem Ziel der Legalisierung. „Betreuen“ ist natürlich ein völlig falsches Wort: die kleine Regenbogen-Gemeinde ließ sich nicht betreuen; sie hatte feste Ziele, Strukturen und Verfahrensweisen. Der Kampf war gegen die Stadtzerstörer, gegen die Verwertungsmechanismen der Wohnungen als Profitmaximierung, gegen die Förderungsmentalität und die Abschreibungsgesellschaften. Die Zeiten waren damals anders im West-Berlin der achtziger: Wohnungsnot, kaputte Stadtteile, Filz in den Verwaltungen und der Baubranche. Aber auch Aufbäumen, Reaktion auf die Zerstörung, Erprobung neuer Lebens- und Wohnweisen, Widerstand gegen die öffentliche Subventionierung der Stadtzerstörung, gegen die selbstlaufende Maschinerie der Kahlschlagsanierung. Lichtblicke und Hoffnungsschimmer im Kampf um behutsame Stadterneuerung: die Besetzungen leer stehender Gebäude, Instandsetzungen, Basisdemokratie, Umkehrung der Entscheidungsstränge, Nachbarschaft.
Ein Kinder-, Kultur und Nachbarschaftszentrum wollte die Regenbogenfabrik werden. Diese Ziele waren nicht akademisch abgeleitet: sie wurden von dem Fehlbedarf des Stadtteils diktiert. Schwer für manchen Bezirks- und Senatspolitiker, sich so etwas konkret vorzustellen, wo doch der Staat für die Bedürfnisse der Infrastruktur zuständig zu sein hatte, wo er die Hierarchien und die bezirklichen Notwendigkeiten zu entscheiden hatte. Und nun kommt eine handvoll junger Leute, tun sich zusammen, formulieren selbstbewusst die nachbarschaftliche Bedarfslage und setzen ihre Ziele Schritt für Schritt um: Kino, Kinderkino, Fahrradwerkstatt, Tischlerei, Elterninitiativ-Kita, Musikübungsraum, Spielplatz auf dem Hof. Mit fast nur Selbsthilfe und mit sehr wenigen, phantasievoll gesammelter öffentlichen Mitteln. Kein Abriß, sondern Instandsetzung und Nutzung der Gebäude, zum Leben, Wohnen, Arbeiten.
Neben vielen anderen ähnlichen Projekten im Stadtgebiet Kreuzberg SO 36 war der große Hof mit den umliegenden Wohngebäuden in der Lausitzer Straße 22 zum Innbegriff des Kreuzbergers unbeugsamen „gallischen Dorfes“ geworden. War das ein kurzlebiger Traum? Getragen durch die fast revolutionäre Woge der achtziger Jahre? Würde das Projekt die neunziger überleben? Ohne die „Käseglocke“ (Zitat: Prof. H.-W. Hämer) der IBA? Ohne die Förderungen in den Nach-Wende-Zeiten?
Mit diesen Gedanken ging ich an diesem September 2004 in den großen Hof hinein und traute meinen Augen nicht: Eine Idylle inmitten der Großstadt, mit viel Grün, mehreren großen Bäumen, dezent gepflasterten Bereichen mit den Frühstückstischen der Jugendherberge, gestrichenen bunten Fassaden, instand gesetztem und modernisiertem Wohnhaus, voll mit Leben, Kindern, jungen Leuten, Erwachsenen… Zu den früheren Teilprojekten sind nun die Töpferei und das Jugendhotel dazugekommen. Sonst war alles noch da und in Betrieb. Unvorstellbar, unfassbar! Das Erstaunlichste vor allem: es waren zum größten Teil dieselben Leute, die vor 14 Jahren das ganze Abenteuer begannen! Keine Eintagsfliege also, keine verflogene Sozialromantik, keine Spielwiese für große Kinder, sondern harte, unbeirrbare Arbeit, mit Durchsetzungsvermögen, Fantasie und konzeptioneller Organisation. Aber auch keine Insel der Glückseligkeit; die Regenbogenfabrik ist fest verankert in die Nöte und die soziale Lage des Kiezes.
Es zeigt sich für mich auf eindrucksvoller Weise, wie Stadterneuerung, die in den Händen der Bewohner liegt, funktioniert, wie ihre Ziele und ihre Arbeit in der Tat die Stadt erneuert. Mit der vorhandenen Bausubstanz, mit wenigen, behutsamen und notwendigen Eingriffen. In dieser damaligen, speziellen, fast auswegslosen Situation in diesem Kreuzberger Kiez haben die Leute Nischen entdeckt oder auch neu gestaltet; sie haben sie besetzt und mit neuen Inhalten gefüllt. Und aus den Nischen sind standhafte Wohn- und Lebensbereiche geworden, eine neue Nachbarschaft entstand, wo das soziale Miteinander wichtiger ist als das desolate Nebeneinander. Aus diesen Nischen sind sinnvolle Strukturen gewachsen, die neue Arbeitsplätze geschaffen haben, wo diese Arbeitsplätze anders definiert werden als in der Wirtschaftstatistik…
Das alles zeigt, wie richtig diese Menschen agiert haben. Es zeigt auch, dass manche wenige Politiker dieser Zeit dies erkannt haben. Es zeigt aber auch schließlich, wie richtig die damaligen Zielsetzungen der „behutsamen Stadterneuerung“ gewesen sind und ebenso, wenn man sich umschaut, wie wenig diese Zielsetzungen von manchen heutigen Politikern und Stadterneuern verinnerlicht wurden.
Viel Glück Regenbogenfabrik, und viel Spaß auch bei den nächsten 25 Jahren!
Kostas Kouvelis Berlin, 31.01.2006
2010 Geburtstag RegenbogenfabrikTeam IBA2017 Griechischer Salon
Zuerst habe ich sein Buch gelesen, ‚Madonnas letzter Traum‘. Eine ziemlich verwickelte Geschichte, die auf einen klassischen türkischen Roman zurückgreift und den Faden ins Heute weiterspinnt. Der dramatische Höhepunkt liegt im Untergang eines mit hunderten jüdischen Flüchtlingen besetzten Schiffes, den eine Person überlebte.
Dann bin ich Doğan Akhanlı begegnet. Christine von der Regenbogenfabrik hatte mich gefragt, ob ich mich an einer Veranstaltung zur Vorstellung seines neuen Buch beteiligen wolle. Die Idee nahm bald Formen an. Doğan, der Übersetzer und Schauspieler Recai Hallac und ich würden aus dem Buch lesen und Patrick Reerink den Abend mit dem Cello begleiten. Im Anschluss sollte es ein Gespräch mit dem Publikum geben. Doğan ist ein Mensch, war ein Mensch – kaum hatte man sich die Hand zum Gruß gegeben, ein paar Worte gewechselt, schon schien man vertraut. Er strahlte pure Wärme und Freundlichkeit aus. Seine direkte, persönliche Art, sein Humor – ich fühlte mich sofort wohl in seiner Gegenwart.
Der Abend war unglaublich atmosphärisch dicht und emotional. Die Lesung aus dem Buch – sein spielerisch leichter Stil durch die Jahrzehnte zu führen, seine Nüchternheit von einer Katastrophe zu berichten – es war ein Auf und Ab der Gefühle. Eine tiefe Betroffenheit, die aus der Verbindung einer lebendig gewordenen Vergangenheit mit heutigen Tragödien entstand. Die Ägäis und ein Schiff voller Flüchtlinge, Menschen, denen Hilfe und Rettung verweigert wird. Damals und heute. Gibt es denn keine Hoffnung? Doğan hat sich mit so vielen schweren Themen beschäftigt. Dem Genozid an den Armeniern, an den Juden. Er war Realist, kein Träumer. Oder ein realistischer Träumer vielleicht. Ja, es gibt vielleicht wirklich keine Hoffnung. Das ist aber kein Grund den Humor zu verlieren. Und nicht den Mut! Nicht mit ihm. Er versprühte Energie, die ansteckende Kraft eines ‚Trotz alledem!‘.
Wir verabschiedeten uns nach einem langen, aufreibenden, beflügelnden Abend. Ich war davon überzeugt, dass ich ihm irgendwann, bei irgendeiner Gelegenheit, wieder begegnen würde. Das stand für mich ganz außer Frage. Ich habe mich schon darauf gefreut. Nun bleibt die Erinnerung. Sie ist so viel wert.
Katja Zanger
Hier möchte ich noch erinnern, mit welchen Veranstaltungen Doğan in der Regenbogenfabrik unser Kulturleben bereichtert hat. Schritt für Schritt konnte ich entdecken und darüber bin ich in aller Trauer froh.
Life is what happens to you while you´re busy making other plans. Soll John Lennon gesagt haben.
Was hatten wir uns alles noch vorgenommen.
Und nun scheint es so zu sein, dass es niemand mehr gibt, der den Karren mit solcher Kraft zieht, wie Anette es getan hat.
Bernd Häusler – unser langjähriger Regenbogen-Anwalt seit „schon immer“ – der sehr traurig war, dass er heute verhindert ist, sagte mir am Telefon: Mut, Klugheit, Nachdrücklichkeit, nie aufgeben und dabei vor allem den Humor nicht verlieren, grad wenn es gar nicht weiterzugehen schien, das hat Anette ausgemacht.
Wir teilen eine reiche Geschichte, wir blicken auf Höhen und Tiefen zurück. Die Kraft des Trotz alledem kam oft von Anette. Es hat sie mehr gekostet, als sie uns manchmal wahrnehmen ließ.
Das galt im Großen wie im Kleinen. In den vielen Kontakten, die ich in den letzten Wochen haben durfte, wurde Anette als Gesicht, als Herz, als Kopf, als Mutter der Regenbogenfabrik gesehen und es gibt wahrlich genug Gründe, die einen dazu bringen können, das so zu sehen. Wie viel an Unterstützung sie im Einzelnen bei der Agentur für Arbeit lockergemacht hat. Wie vielen sie zu einer angemessenen Wohnung verholfen hat:: Anette hat in der Auseinandersetzung ums Große Ganze die „Kleinigkeiten“ nicht aus den Augen verloren.
Und Mut gestärkt, das hab ich persönlich erfahren, als ich vor fünf Jahren feststellen musste, dass sich in mir Strukturen entwickelt hatten, die mir ans Leben hätten gehen können. Was von mir den Namen Egon erhielt, um das Wort Magenkrebs nicht dauernd in den Mund nehmen zu müssen, verlangte schmerzhafte Distanzierung, erzielt mit chirurgischem Geschick. Da kam ich wirklich an eine Grenze. Anettes Humor hat mir die Kraft gegeben, den Widrigkeiten zu trotzen.
Michael Preuß, der Anette seit Studienzeiten kannte, hat es so gut geschrieben: Für Anette war die kapitalistische Verwertungslogik nicht „alternativlos“ und das Leben und Arbeiten in der Regenbogenfabrik Teil der Bewegung für eine solidarische Ökonomie.
Das ist es, was uns hier umtreibt und zusammenhält. Unsere Kraft steckt in den Beziehungen und Freundschaften, gewachsen in all den Jahren der gemeinsamen Arbeit. Die Trauerzeit in den letzten Wochen hat uns das wieder gezeigt, was im Alltag manchmal untergeht: Wir gehören zusammen, die Regenbogenfabrik wird weiterbestehen. Auch ohne Anette, aber mit ihren Ideen im Herzen, können wir die nächsten Schritte meistern.
Halten wir also Ausschau nach den Menschen, die ihre und unsere Vision teilen, machen bei uns die Türen weit auf, um sie willkommen zu heißen, um Anettes und unsere Sehnsucht in die Zukunft zu tragen.
Die Unbedingtheit weiter im Herzen tragen und dabei achtsam sein für uns und die Grenzen und Fähigkeiten, die Last umverteilen auf viele und verschiedene Schultern. Und die Freude am Gelingen dann teilen.
Das hätte Anette sich gewünscht und das wünsche ich mir heute für uns alle.