2015 | Marsch nach Aleppo

Das war der Anfang.
Als im Herbst 2015 Tausende von Flüchtlingen, die im Spätsommer nach Berlin kamen, wochenlang warteten, bis sie von der Berliner Polizei erfasst werden. Der Wille, sie aufzunehmen, war (schon) da: Was jedoch versagte, ist die Bürokratie.

Damals, vor sechs Jahren, habe ich das erste Mal von Anna Alboth gehört, einer Polin, die unter den Flüchtlingen in Berliner Parks Essen, heißen Tee und Schlafsäcke verteilt.
Damals, vor sechs Jahren, haben wir uns kennengelernt. Ein Jahr später, nach dem Anna Alboth im Fernsehen eine Bombardierung Aleppos gesehen hat, die das letzte funktionierende Kinderkrankenhaus zerstörte, weinte sie zuerst viele Stunden und dann schrieb sie an uns, ihre Freunde, eine kurze Mail:

Wenn ich einen Protestmarsch nach Aleppo organisiere, wirst du mitmachen?

Wir haben ja gesagt.

Einen Monat später, am 26. Dezember 2016 in Berlin-Tempelhof, starteten drei Tausend Leute zu einem beispiellosen Marsch nach Aleppo.
Sie erreichten die syrische Grenze nach 232 Tagen Marsch am 14. August 2017 im Libanon.

Bevor wir / sie starteten schrieben wir / sie in vielen Sprachen:

Manifest

Es ist Zeit zu Handeln. Wir können nicht weiter vor unseren Bildschirmen sitzen und nichts tun; schreiben, wie schrecklich das ist; behaupten, dass wir machtlos sind. Nein, wir sind nicht machtlos. Dafür sind wir sind viel zu viele!

Wir gehen von Berlin nach Aleppo über die sogenannte „Flüchtlingsroute“, nur in die andere Richtung.

Uns wurde beigebracht, uns der Situation und dem Krieg zu fügen. Uns wurde beigebracht, uns vor den Mächtigen, die die Fäden ziehen, zu fürchten. Wir wurden dazu gebracht, auf der Seite der „Guten“ zu stehen und den „Bösen“ die Schuld zu geben; die Aufteilung von Menschen in die Besseren und die Schlechteren zu akzeptieren; diejenigen, die nachts in Sicherheit in ihrem warmen Bett schlafen können und diejenigen, die um ihr Leben bangen und flüchten müssen.
„So ist das eben“, wurde uns gesagt.

Aber wir können das nicht länger akzeptieren. Wir haben unsere stille Zustimmung widerrufen. Wir sind bereit, der Machtlosigkeit ein Ende zu bereiten.
Wir wollen losgehen und Menschen helfen, die genau so sind wie wir, außer dass sie eben nicht das Glück haben, in Berlin, London oder Paris geboren zu sein. Als Bürger für Bürger werden wir marschieren, Hand in Hand, von Berlin über die Tschechische Republik, Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien, Mazedonien, Griechenland und die Türkei, nach Aleppo.
Es ist ein langer Weg. Genau so lang wie der, den die Geflüchteten nehmen mussten, um ihr Leben zu retten. Jetzt wollen wir dasselbe tun, um weitere Leben zu retten. Und wir werden dies zusammen, in einer großen Gruppe tun.

Wir sind ganz normale Menschen. Wir repräsentieren keine bestimmte politische Partei oder Organisation. Wir werden weiße Flaggen tragen, um der Welt unsere Nachricht mitzuteilen: Genug ist genug. Dieser Krieg muss enden!

Und dieser Krieg kann beendet werden. Dazu sind nur ein paar Unterschriften nötig. Aber während wir darauf warten, dass dies passiert, können wir dem Leid der Bewohner Aleppos nicht weiter tatenlos zusehen. Kein Mensch verdient es, das durchzumachen. Es ist kein „normaler“ Krieg mehr, wenn Kinderkrankenhäuser zu Zielen werden. Wir wollen nicht weiterhin aus sicherer Distanz dabei zusehen. Und wir werden es nicht tun!
Wir sind fest entschlossen, dieses Gefühl von Machtlosigkeit abzuschütteln und zu handeln. Wir sind entschlossen, wir sind vereint und wir werden so lange marschieren, wie nötig.
Für den Frieden.

Denkst du auch, dass es jetzt reicht? Willst du auch mehr tun, als vor deinem Bildschirm zu weinen? Wir sind schon zu lange tatenlos geblieben. Unsere Tränen und unsere Wut müssen in Handlung umgesetzt werden.
Dies ist unsere Handlung. Wir gehen nach Aleppo. Was wird dort passieren? Werden sie eine Gruppe von 5000 Menschen bombardieren? Werden sie es wagen, das zu tun? Du denkst, wir sind verrückt?
Wir denken, dass es verrückt ist, weiterhin tatenlos herumzusitzen und zu warten, bis alle sterben.

Lasst uns nicht weiter warten. Lasst uns einfach losgehen und diesen Wahnsinn stoppen.

Wir gehen am 26. Dezember von Berlin aus los. Wirst du uns begleiten?

***


Es war ein Friedensmarsch. 3.500 Teilnehmer:innen aus 62 Ländern sind mitgelaufen, manche länger, manche nur ein paar Tage. Egal. Es gab auch ganz viele Leute, die den Marsch online unterstützt haben, Bürger:innen Deutschlands, Tschechiens, Österreichs, Kroatiens, Bosniens, Serbiens, Mazedoniens, Griechenlands, Bulgariens, die für uns Pressearbeit machten, Geld gesammelt haben, sich um Übernachtungsplätze gekümmert haben und geholfen haben, gemeinsam Veranstaltungen zu organisieren.

Der Civil March war nicht von Profi-Aktivisten oder Organisationen mit vielen Ressourcen organisiert, sondern von normalen Bürger:innen, die sehr spontan ihre Zeit, Energie und Geld für die Sache einsetzten. Es war eine einmalige neunmonatige Aktion.
Es hat einerseits die Kraft von bürgerschaftlichem Graswurzel-Aktivismus ohne eine dahinterstehende Organisation bewiesen und andererseits die Wichtigkeit von Aktionen mit einer niedrigen Teilnahme-Schwelle unterstrichen. Der Friedensmarsch hat es jedem möglich gemacht, teilzunehmen und Solidarität mit den zivilen Opfern Syriens zu zeigen.
Wir haben während des Marsches viele Dörfer und Städte durchquert, die Flüchtlinge und Asylsuchende mit offenen Armen empfangen haben und so viele Menschen getroffen, die ihnen ihre Türen geöffnet haben.

Wir wollen die direkten Folgen des Krieges unterstreichen:
Die Millionen, die auf der Flucht sind und die Zurückweisung von Asylsuchenden durch EU Mitgliedsstaaten.
Während die EU selbst vielleicht nur begrenzten Einfluss hat, den Syrienkonflikt alleine zu lösen, kann niemand ihre Kapazität in Frage stellen, Flüchtlinge und die, die internationalen Schutz benötigen, aufzunehmen. Der Civil March für Aleppo hat bewiesen, dass vielen EU Bürger:innen, nicht nur den Teilnehmer:innen des Friedensmarsches, das Schicksal der Flüchtlinge wichtig ist.

Wir wollen, dass sich diese Einstellung in der aktuellen Flüchtlingspolitik wiederfindet und rufen alle Entscheidungsträger in der EU dazu auf, eine menschliche Einwanderungspolitik zu schaffen, die auf den Werten von Solidarität und Menschlichkeit beruht.
Dies sind die Werte, die den meisten EU-Bürger:innen unendlich wichtig sind.

***

Im Sommer 2018 wurde der Marsch für den Friedensnobelpreis nominiert. Im November erfuhren wir, dass Denis Mukwege und Nadia Murad ausgezeichnet wurden für ihren Einsatz gegen Gewalt an Frauen.
Wir fanden es gerecht und gratulierten.

***

Wenn ich diesen Text genau fünf Jahre später, im Dezember 2021, schreibe, denke ich, dass wir das, was wir damals im Manifest geschrieben haben, jetzt fast wortgleich über die Ereignisse an der Weißrussisch-Polnischen Grenze schreiben können.

Und wir müssen wiederholen:

Tu was! Tu was! Tu was! Zwinge die Mächtigen dieser Welt zu diesen ein paar Unterschriften, die fehlen, um diesen hybriden Krieg zu beenden, den Putin und Lukaschenko mit Europa führen, in dem die Flüchtlinge als Waffe eingesetzt werden.

An der Grenze sterben die Menschen.

Und Anna Alboth ist wieder dabei. Dort, wo es schmerzt. Auf dieser Grenze.

Anna Alboth mit einem Flüchtlingskind in Narewka, Polen, an der Grenze zu Weißrussland

Foto: Jana Cavojska/SOPA/Rex/Shutterstock

Bitte:
Hier kann Geld eingezahlt werden, das bei denen ankommt, die an der polnisch-weißrussischen Grenze die Hilfe leisten: Grupa Granica. Zahlt ein!

Dank unserer Spenden können die Freiwilligen an der Grenze, aber auch andere Helfende, Rechtsanwält:innen, Psycholog:innen und die ganze Armee der Menschen guten Willens das machen, was sie machen.
Danke: https://zrzutka.pl/8br4cy

Anmerkung zum Einzahlen: versuche nicht, sich von diesem Link einzuloggen; er funktioniert nicht und ich weiß nicht weshalb; kopiere den Code und mach es direkt vom Browser.

Ewa Maria Slaska