Kultur und Politik, ok. Aber Sport? Was hat das mit der Regenbogenfabrik zu tun? Nun ja, vielleicht nicht ganz direkt und unmittelbar. Aber es gibt schon Sportarten, die dem Geist der Fabrik eher entsprechen als andere. Völlig durchkommerzialisierte Sportarten gehören eher weniger dazu. Hochleistungssport auch nicht. Aber alternativ und selbstorganisiert. Proletarisch und antirassistisch. Das hört sich schon besser an. Umweltfreundlich und sozial.
Kurzum: Kiezkompatibel.
Und mensch braucht gar nicht weit zu laufen: Knapp 500 Meter entfernt am Paul-Lincke-Ufer wird ein solcher Sport ausgeübt. Genauer: Petanque gespielt. Es ist eine spezielle Form des Spiels mit Eisenkugeln, vielen bekannt unter dem Begriff „Boule“. Entstanden ist es in der Provence vor mehr als hundert Jahren und hat sich dann in Frankreich zum Volkssport entwickelt. In Deutschland wurde es lange nur von Franzosen und frankophilen Studienräten gespielt. Alte Männer, Rotwein, Zigarette. Das war das Bild, das lange Zeit vorherrschte.
Ces temps sont révolus. Wer heute am Lincke Ufer verweilt, sieht Junge und Alte, Frauen und Männer, hört neben deutsch vor allem romanische und asiatische Sprachen.
Klar wird auch geraucht und getrunken, aber vor allem konzentriert gespielt. Mit zwölf Kugeln auf 36 qm können sechs Leute stundenlang Spass haben. Mit dem Golfen hat Boule nur die unversiegelten Flächen gemeinsam und sportliche Aspekte wie Taktik, Technik, Körpergefühl und Konzentration. Denn der Sport kostet auch nicht viel:
Drei Kugeln sind nötig, um mitspielen zu können. Ab 90 Euro aufwärts gibt es Wettkampfkugeln, die gebraucht auch billiger zu haben sind. Noch billiger sind Freizeitkugeln. Erstere halten, je nach Härtegrad, jahrelang oder ein ganzes Leben. Boule 36 e.V., Bouledozer, Lincke-Bouler sowie 1. Boule Club Kreuzberg heißen die Vereine, die am Lincke-Ufer spielen. Wer tiefer einsteigen will: beim 1. BCK kostet der reguläre Jahresbeitrag 60, ermäßigt 30 Euro.
Viel Geld lässt sich mit Boule nicht verdienen, sogar im Geburtsland Frankreich sind fast alle Spieler:innen Amateure – auch wenn die Endspiele des mit bis zu 15.000 Teilnehmer::innen weltweit größten Turniers, der Marseillaise, vor mehreren tausend Zuschauer:innen in der südfranzösischen Hafenstadt ausgetragen und sogar live übertragen werden. Das erste Mal fand das Turnier 1962 statt. Seitdem wird es jedes Jahr in der ersten Juliwoche ausgerichtet vom Spirituosenhersteller Ricard und der linken Tageszeitung „La Marseillaise“, die 1943 von französischen Widerstandskämpfern gegründet worden war.
Wer jetzt Appetit bekommen hat: Kugeln mitnehmen und ab ans Lincke-Ufer. Da findet sich fast immer jemand zum mitspielen. Vielleicht gibt es sogar gerade ein selbstorganisiertes Turnier.
Wie in der Regenbogenfabrik weht am Boulodrome der alte Geist des Kiezes – jenseits von Gentrifizierung und Kommerz.
Gerhard
Die Bilder sind am Morgen aufgenommen, da hat die Spaziergängerin nur die Hundesitter getroffen.
Zwei Stunden später sieht es hier ganz anders aus!