Zusammenleben

Einmal gab’s für Regenbogenverhältnisse richtig Ärger.
Nein, das Fahrrad der Mitbewohnerin sollte ich nicht im Fahrradkeller aufhängen, zu den anderen Rädern die wohl geordnet und platzsparend aufgereiht baumelten. Sie hat eben einen Bandscheibenvorfall, deshalb steht es, im Gegensatz zu den anderen an seinem Fahrradständer.
Es hatte nur einen Tag gedauert, bis die Frage, wer das Fahrrad denn aufgehangen hatte, sich rumgesprochen und mich erreicht hatte. „Ich wollt doch nur“, dachte ich, aber die Ordnung in meiner neuen Gemeinschaft Berlins dachte nicht in Reih und Glied, die dachte sozial.
Nicht wie ein Uhrwerk, was funktionieren muss, sondern eben: wie eine Gemeinschaft, in der jeder Mensch die eigenen Bedürfnisse hat, die Regeln der anderen respektiert und, das ist besonders, die aufmerksam anerkennt.
So blubberte die vegane Sondersuppe für die Tochter, so hingen verschiedene Zettel für verschiedene Supermärkte in der Essensgruppe, so komplex war der Alltag gewachsen, in dem alle stets bemüht sind, allen einen Platz zuzusprechen, den sie auf dieser Welt verdient hat.
Was brauchen wir, um zufrieden zu sein?
Diese Frage wurde nie explizit diskutiert in der Zeit, wo ich regelmäßig um 19 Uhr in die Essensgruppe kommen durfte, 26 Tage im Monat ein Drei-Gänge-Menü mit Salat, Hauptspeise, Nachtisch bereitstand und ich dafür vier Mal selber kochte. Kochen durfte, denn es war eine Wohltat, mich zu revanchieren, Rezepte auszuprobieren, wo ich doch wusste, dass wir zu zehnt essen würden, jede Mühe die ich mir gab mir selbst die größte Freude bereitete.
Dass wir uns brauchen, und dieses Wir das Schönste ist, was wir haben, viel schöner als jede Couchgarnitur, jedes Fernsehzimmer oder sonstige Wohlstandsrequisiten, erlebte ich nicht als kitischig-priesterliches Sonntagsredenversprechen, sondern unverblümt erdend, wenn nach meiner Bemühungsshow vielleicht doch ein liebevoller Zettel auf dem Frühstückstisch lag, wo im Anleitungsstil beschrieben wurde, wie man die Krümel in der Brotecke wegkehren kann, damit es nicht immer dieselben Menschen machen.
Ich komme selbst auch einer westdeutschen Vorstadt, Doppelhaushälfte, mit Nachbarn, die ihren Hintergarten zubetoniert und grün gestrichen haben, weil man das so gut sauber halten kann. Um dieser beklemmenden Kleinbürgerlichkeit zu entfliehen, war die Hauptsache in die Hauptstadt zu gelangen, wo ich in meiner jugendlichen Aufregung bereitwillig durch jede offene Tür gegangen wäre, vermutlich auch durch diejenigen, die so viele zerkauen, verwirren, ausspucken und nach sieben Jahren die Zuflucht in der Altgewohnten Spießbürgerlichkeit am Berliner Speckgürtel suchen lassen.
Mit gebrochenen Träumen, mit latenter Depression und einem erfüllten Wunsch der eigenen Eltern. Doch ich bin zufällig durch das Tor der Lausitzer Straße 23 gelaufen und durfte dieses einzigartige Lebensmodell erleben, diesem ehemals besetzten Haus, wo Spießigkeit bedeutet, gesellschaftliche Konventionen über Bord zu werfen, und eigene Konventionen umso eifriger zu verteidigen: Regeln des achtsamen sozial-ökologischen Zusammenlebens.
Ich kenne keinen Ort in Berlin, der so viel selbstverständliche Wärme, der so praktische Ansätze verfolgt, die gesellschaftliche Gesamtscheisse nicht nachzuleben, der mit einer Gelassenheit eine andere Welt möglich macht, wie die Regenbogenfabrik.

„Wir wurden als Spießer:innen der Besetzer:innenszene bezeichnet“, sagte mir Edith mal kokettierend, die mit dem Brotkrümelzettelchen, „weil wir bis heute keine einzige Hausdurchsuchung hatten“.
Was würde die Polizei dort auch finden, frage ich mich, außer einer Ordnung, die so viel überzeugender ist, als die der Ordnungshüter:innen.

Jean Peters