An Wochenenden stehen öfter mal Pärchen in schicken Mänteln vor der Lausitzer Straße 22 und denken: Hier sind wir irgendwie falsch. Eigentlich wollten sie ins „RegenbogenKino“; in der Zeitung haben sie gelesen, es käme ein Film von Wim Wenders, aber hier ist Baustelle und alles dunkel.
Wahrscheinlich finden sie im Hinterhof nach einem Weilchen den hell ausgeleuchteten Türrahmen, „Kino“ ist drangesprüht, das Pärchen geht befremdet die Treppe rauf, landet auf alten Sofas vor einer respektablen, richtig professionellen Leinwand.
Schwellenangst vor „Kultur“-Veranstaltungen oder gar vor‘m Kino haben sie sich eigentlich längst abgewöhnt, aber in der Regenbogenfabrik, da kommt sie plötzlich wieder hoch. Es sind verkehrte Welten, wenn ein ganz normales altes Fabrikgebäude den Filmfans schon komisch vorkommt. Der neue deutsche Schick ist ihnen viel vertrauter.
Die Kinder aus der Nachbarschaft dagegen haben diese Schwellenangst vor der Fabrik überhaupt nicht. Sie kennen die Gebäude wie ihre Westentasche, und genau wie die Tasche hat auch die Fabrik immer ein Loch: Zum Abhauen, zum Verstecken. Die Fabrik ist ihr Spielplatz, sie wissen, dass es drei Treppenaufgänge, rund zehn Türen nach draußen gibt, wie man wohin entkommt und wo man sich wieder über den Weg läuft. Mal hilft einer der Jugendlichen im RegenbogenCafé, mal will einer in der Fahrradwerkstatt ne chicke Zange mitgehen lassen.
„Kultur“ fängt in der Regenbogenfabrik ein gutes Stück weiter unten an als im Café Einstein oder in der Deutschen Oper. Sie fängt damit an, dass eine ganze Menge Leute – 30 Besetzer mit ihren acht Kindern aus den Wohngebäuden nebenan und noch mal genauso viele Aktive aus dem Kiez – einen Freiraum auf der Fabrik erkämpfen wollen gegen die Neubaupläne des Vogel-Braun-Konzerns. Kultur fängt damit an, dass das Dach über’m Kino mit Hilfe mühsam zusammengekratzter Gelder regendicht gemacht wird. Dass auf den kiezbekannten Fabrikfesten die türkische Theatergruppe der Schaubühne genauso spielt wie die „Panzerknacker“ oder eine der Musikgruppen, die im Übungsraum der Fabrik proben.
Am Anfang, als im März 1981 besetzt wurde, stand die Lust am Kollektiv und eine Idee: Kultur-, Kinder- und Nachbarschaftszentrum. Die nächsten zwei Jahre politischer Auseinandersetzung boten alles inklusive: von der Brandstiftung durch Rechtsradikale bis zur Mauschelei in den Senatsverwaltungen, bei der die Regenbogen-Leute lernten, wie Politiker falsche Hoffnungen wecken können. Jetzt droht am 1. Dezember die Räumung. Vogel/Braun hat mit einem unbezahlbaren Pachtvertrag ein Scheinangebot gemacht; bloß, wenn der Senat sich zum Kauf entschließt, kann das Projekt gerettet werden. Ob der Senat allerdings ein Fünkchen Bereitschaft zeigt, darüber werden die Regenbogen-Leute im Unklaren gelassen. Kunz und Lummer halten ihre freundlicher gesinnten Amtskollegen im Zaum.
In der Zwischenzeit, wenn die Aktivisten mal gerade nicht um die politische Durchsetzung ihres Projektes kämpfen, kämpfen sie um die Ordnung auf dem Fabrikhof und um mehr Grün gegen die baulichen Schwierigkeiten. Und auch für Kultur im Kreuzberger Hinterhof.
Die Regenbogenfabrik hat sich seit März 1981 – manchmal mit Hängen und Würgen, manchmal mit Lust und Laune – bis heute gehalten.
Und das ist eigentlich schon ein Wunder.
Die Fabrik ist zu einem Symbol geworden, ebenso wie sie einen Nutzen im Alltag einer ganzen Menge von Leuten darstellt.
Dass die Regenbogenfabrik so einen Symbolcharakter für Stadtteilarbeit und Widerstand im Kiez bekommen hat, hängt sicher auch damit zusammen, dass sie nicht nur einen Raum für Gruppenaktivitäten darstellt, sondern dass von ihrem Bestand auch der Lebensraum der Besetzer im benachbarten Hinterhaus und Seitenflügel abhängt. Hier geht es nicht nur um „Projekte“, da ist kein Kommen und Gehen, sondern die Leute sind zum Teil so eng mit der Fabrik verwachsen, dass ihnen schon der Gedanke an ein Ende nicht denkbar ist. Für einige Leute bedeutet das Ende der Fabrik der Zusammenbruch ihrer gerade gewachsenen Lebenszusammenhänge.
Da wären manche echt am Arsch.
Durch das deutsch-türkische Selbsthilfeprojekt „Lausehaus“ im Vorderhaus Lausitzer Straße 22 wäre der Zusammenhang von Leben und Arbeiten noch enger geworden, außerdem wären mehr Ausländer ins Projekt gezogen worden. Jetzt wird das Haus luxusmodernisiert. Von den Leuten, die um die Regenbogenfabrik leben, kam in den vergangenen Jahren immer wieder die Power, über den Alltagstrott hinaus mal was auf die Beine zu stellen.
So wurden an einem Wochenende über 1000 Fahrräder, die der Senat über den Verein SO 36 abgab, hier von der rasch erfundenen „Gesellschaft Pedale und Randale“ vertrieben: nie waren wohl so viele „Normalbürger“ auf einmal im „besetzten Teil Berlins“.
Ein anderes Mal packten die Fabrik-Leute zusammen mit der Kiezprominenz von Jugendstadtrat König bis zu Gustl Roth, Superintendent der Evangelischen Kirche Kreuzbergs – mit Schaufel und Hacke an, um auf dem Fabrikhof mehr Grün zu schaffen. 50.000 Mark und unzählige Arbeitsstunden stecken inzwischen in der Fabrik. Es gab natürlich auch viele Ansätze zur Nutzung, die in baulichen oder persönlichen Schwierigkeiten steckenblieben. Sechs Gruppen haben durchgehalten: die starken Männer der Fahrradwerkstatt, die zusammen mit dem Stadtteilzentrum Lausitzer Straße organisiert wird; die Tischlerei „Holznagel“, die von ihrem Vorgänger „Kahlschlag“ (so heißt sie wirklich!) den ziemlich perfekten Maschinenpark übernommen hat; mehrere Musikgruppen, die sich einen Übungsraum eingerichtet haben; das Regenbogenkino mit Heizungsproblemen und einem echt tollen Programm – es ist Mitglied im Verbund der Off-Off-Kinos; die Babygruppe, die – als einziges Projekt auf der Fabrik – öffentlich gefördert wird; schließlich als Dreh- und Angel- und Treffpunkt das Vereins-Café im Vorderhaus Lausitzer Straße 22a, wo Bauarbeiter, auch underdogs, und vor allem nette Leute Kaffee und Zeitungen konsumieren.
Mittwochs beim Fabrikplenum sitzen all diese Gruppen zusammen – und noch mehr: jetzt z.B. türkische Jugendliche, die den Fußballclub „Regenbogen“ gegründet haben und einen weiteren Raum herrichten.
Die Mischung auf dem Plenum ist oft explosiv. Eigentlich verlangt die Fabrik mehr Arbeit, als die Leute leisten können. Da außer der Babygruppe nichts öffentlich gefördert wird, bleibt über die konkrete Arbeit in der einzelnen Gruppe oft keine Kraft – oder Lust – übrig für grundsätzlichere Dinge. Die Fabrikleute legen Wert darauf, dass sie öffentliche Arbeit für die Nachbarschaft leisten wollen. Damit haben sie sich aber einen Klotz ans Bein gebunden, weil das Projekt trotz seiner öffentlichen Nutzung als besetzt gilt und man deshalb keine Finanzmittel bekommen kann, durch die z.B. Kinderarbeit oder Kulturveranstaltungen leichter zu organisieren wären. Das, was von den Leuten fürs Gesamtprojekt getan wird, reicht einigen, die diesen hohen Anspruch nicht aufgeben wollen, nicht – und dann kracht‘s. Der Senat hat bisher seine Position, selbst einzelne Projekte auf der Regenbogenfabrik von jeder Förderung auszuschließen, nicht revidiert. Da hat auch die politische und planerische Unterstützung der Bezirksverordnetenversammlung Kreuzberg, der IBA und vieler anderer nichts geholfen.
Aber es ist ja nicht eine finanzielle Frage, ob das Projekt unterstützt wird. Das Entscheidende ist, ob der Senat politisch soweit unter Druck gesetzt werden kann, dass er sich zum Kauf der Fabrik entschließt; nur dieser würde das Projekt langfristig sichern, und damit hätte der Senat die Bedürfnisse von unten, die Strukturen im Stadtteil ausnahmsweise mal respektiert. Was nämlich die Regenbogenfabrik vielen anderen Projekten voraus hat, ist, dass sie sich eben völlig von unten, von Initiativen aus dem Kiez her entwickelt hat. Das geschah natürlich schon deshalb, weil von „oben“ nichts kam, was das Projekt insgesamt abgesichert hätte, aber damit ist immerhin ein Netz entstanden, das es in anderen Kulturzentren aus der Retorte nicht gibt.
Die Tischlerei macht die Fenster im Kino, im Café wärmen sich die Leute der Fahrradwerkstatt, die Eltern der Babygruppe machen vielleicht bei der Hofbegrünung mit – vielleicht auch nicht –.
So geht das kreuz und quer, und Kultur ist nicht ein großer Anspruch, sondern wird nur gemacht, wenn sie auch Spaß macht. Und das ist gut so.
Dieter Thomä, taz, 19.11.1983
Foto: Kostas Kouvelis