An der S-Bahn Treptower Park, sie war auf dem Weg zum Flughafen Schönefeld, kam ich vor Jahren mal mit einer Neuseeländerin ins Gespräch, die entgeistert um sich schaute. Sie war verunsichert von dem gereizten Ton, den laut gebellten Ansagen, den verhärmten Gesichtszügen, dem Mangel an Sanftmut. Sie meinte, Berlin habe etwas Militärisches, man erwarte überall einen Aufzug. Wir nennen das heute Demo, sagte ich. Nee, sie mochte es hier nicht. Ich sympathisierte mit ihr und erklärte ihr was von Preußen, und dass man das alles nur verstehen könnte, wenn man wüsste, dass hier schon der Osten anfinge. Von hier bis zur Beringstraße sei es ja nicht mehr weit.
Wir waren uns in unserer Abneigung schnell einig, denn ich schätzte kaum etwas mehr als ihre sensible, welterfahrene Art, eine Commonwealth-Spezies, die es kaum noch gibt – schon M.K. Gandhi war schwer davon beeindruckt.
Neulich bin ich ihrem Gegenentwurf, einem älteren Punk aus der Provinz begegnet, der davon schwärmte, wie frei und unbekümmert die Leute hier seien, auf breiten Bürgersteigen und engen Radwegen sich eine erstaunliche Vielfalt von Menschen samt Ausweichmanöver entfalteten, oder sich locker anranzten. Außerdem sei das Geheul von Sirenen immer präsent, als ob gerade ein Tatort laufen würde. Hier sei immer alles in Bewegung, zuhause sei es kack langweilig. Selbst Rentner würden hier mit e-bikes um die Wette rasen, bikes, die so schlank aussähen, als ob es richtige Fahrräder seien.
Wir kamen an zerschlissenen Sofas mit Parolen drauf, alten Computern und grünen Beeten neben zerbrochenen Bierflaschen. Er sog alles in sich auf, gab dem Motz-Verkäufer sein ganzes Kleingeld. Das Graffiti da oben, ist das von Banksy? fragte er. Nee, sagte ich, der fiese Außerirdische dort oben war bestimmt ‘ne Auftragsarbeit. Und Vorsicht, tritt nicht da rein, da hat sich jemand übergeben, es liegt schon länger da; vielleicht ist das Muster ja beabsichtigt, morgen kommt das Video dazu raus.
Auch mit ihm war ich mir schnell einig, denn auch ich schätzte kaum etwas mehr als diese unprätentiöse, unverhohlene Art des Lebens. Selbst jene Leute, die sich um das Erbrochene kümmern müssen, kommen einem hier mit Gedichten:
„Eimer für alle“, „Kehr Force One“, „You are leaving the dirty sector“, „Würstchenbude“, „Kot d‘Azur“, „Feganer“, „Leerkraft“ steht da auf gelben Abfalleimern und Räumschiffen. Dabei konnte sich Berlin immer eines besonderen Aromas rühmen: Also diese Mischung aus herrlichem Kaffeeduft und frischer Hundekacke. Seitdem die Tonnage an Hundekacke auf Gehwegen um 52.3% zurückgegangen ist, kann man davon nicht mehr reden.
Also, jeder soll nach seiner Fasson selig werden, finde ich auch.
Es gibt nur eine Ausnahme, mit der werde ich mir nie einig; da kommt bei mir der innere Stalin hoch:
Das sind jene von Berlin wie magisch angezogenen „Kreativen“, die sich der platten Begegnung und dem direkten Gegenüber entziehen und nicht einmal eine Maske brauchen, um sich zu verstecken. Gewisse Individuen, die auch lange nach der Pandemie noch ‚social distancing‘ in Perfektion praktizieren werden:
Nämlich Briefkastenfirmen und ihr Personal vom Planeten Heuschrecke, also jene Wesen, die sich hinter semi-legalen Konstruktionen verkriechen (und ich meine damit ausnahmsweise nicht ihrem Aktienkurs frönende Gesellschaften wie die Vonovia oder DW).
Bei der kleinsten Ordnungswidrigkeit muss man sich vor Gerichten ausweisen, aber diese Heuschrecken dürfen anonym bleiben, sie brauchen nur ein paar Anwälte vorzuschicken, um dann in Seelenruhe die über Jahrzehnte gewachsenen Biotope und Strukturen dieser Stadt zu filetieren und zahllose Existenzen zu gefährden oder ganz zunichte zu machen. Das sind jene Projekte, die aus der Zeit gefallen sind, die auf dem Planeten Heuschrecke gerade herrscht. Die Grundstückspreise und die Mieten sind ja ins Unermessliche geschossen, dabei gab es in den 60ern fürs Gewerbe Mietobergrenzen. Für diese Wesen ist das alles kein Problem: Sie erobern ihr Terrain elegant und lautlos und ziehen sich dann diskret wieder zurück. Als Beispiel sei die Räumung der Buchhandlung Kisch & Co in der Oranienstraße benannt, sie steht in den nächsten Wochen bevor:
Und wer’s nicht glaubt, wie verschämt sich die Geier gerieren, dem sei unbedingt folgende Recherche zur Anonymität im Immobilienmarkt empfohlen:
https://www.rosalux.de/publikation/id/42141/keine-transparenz-trotz-transparenzregister