Weggehen, um anzukommen

Wenn es etwas Positives gibt an der Pandemie, dann ist es vielleicht ein wenig mehr Zeit zu haben, um die Wohnung aufzuräumen, um die Lieblingsbücher noch mal zu lesen und dann die aktuellen Schmöker, um Fotos zu sortieren und in Alben zu kleben (die gibt es tatsächlich immer noch) oder einfach darüber zu sinnieren, wie sich Berlin im Lauf von 40 Jahren, die ich jetzt in dieser Stadt lebe, verändert hat.

Manchmal bin ich darüber erstaunt, manchmal entsetzt. Wir können nur versuchen, das Schlimmste an architektonischen Plänen zu verhindern. Im Gegensatz zu München und Hamburg gibt es hier noch Platz. An den Stadträndern wie Buckow oder Buch etc. gibt es Freiraum für weitere Wohnungen.
Das Tempelhofer Feld in der Innenstadt muss dafür nicht herhalten.

Verschont geblieben von den Veränderungen um sich herum scheint die Regenbogenfabrik (plus Wohnhaus). Zwar kam im Lauf der Zeit ein schönes Hostel und eine Kantine mit leckerem Essen dazu, das Café hat sich konzeptionell umgestaltet, im Wohnhaus sind Menschen aus- und neue Bewohner:innen eingezogen, aber für mich ist es eine wohlige Insel inmitten eines hektischen, lebendigen Kiezes geblieben. Das liegt u.a. sicherlich an der Haltung der Mitarbeitenden, aber auch an den Bewohner:innen. Es geht nach wie vor um die Selbstorganisation eines großen Wohn- und Kulturprojekts, das gemeinschaftlich geführt wird.
So gibt es eine Kinogruppe, die das Programm gemeinsam bespricht und organisiert; eine Cafègruppe, eine Hostel- und Kantinengruppe. Nach wie vor kann mensch kulturelle Veranstaltungen gegen eine Spende besuchen, im Café kann mit Jens gemeinsam singen werden, vorausgesetzt die Inzidenzen stimmen – und es treffen sich dort die Urgesteine aus dem Kiez.
Tourist:innen, sie sich verlaufen haben und junge Erwachsene, die mal etwas Kiezatmosphäre schnuppern wollen.

Ich kann den großen Hof mit dem Spielplatz genießen, den Garten im Wohnhaus und die wunderschöne Dachterrasse. All das wurde in Eigeninitiative ausgebaut und gestaltet. Es ist eine kleine Insel in diesem Häusermeer, dem Autoverkehr, dem Lärm und der Vermüllung in der Umgebung. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein.

Eine der Aktivist:innen der Regenbogenfabrik habe ich vor vielen Jahren in den 80ern am Otto-Suhr-Institut kennengelernt. Wir waren beide Studentinnen u.a. in der Erwachsenenbildung und haben einige Seminare bei einem sehr klugen Dozenten belegt, der leider im letzten Jahr verstorben ist. Kurz vor Ende meines Studiums geriet mein Leben durch die Trennung von meinem langjährigen Partner in die Krise. Ich wollte und brauchte eine räumliche Veränderung. Da passte es gut, dass Christine zum selben Zeitpunkt für ein Jahr nach England wollte und eine Zwischenmieterin für ihr Zimmer suchte. Nach einem ausführlichen Vorstellungsgespräch beim Hausplenum konnte ich dann einziehen und bin für einige Jahre geblieben. Durch den Einzug in das Wohnhaus der Regenbogenfabrik bekam mein Leben Struktur. Einmal in der Woche habe ich in der Kochgruppe gekocht. Ich habe viele Filme im Kino gesehen, Partys genossen und mich irgendwann in meinen zukünftigen Partner verliebt.
Anfang der 90er bekam ich unseren Sohn. Mit der neuen Mutterrolle und den Ansprüchen der Kreuzberger Mütter und Väter fühlte ich mich restlos überfordert und bat meinen Partner um eine räumliche Veränderung. Manchmal passt das Konzept der Kleinfamilie für Eltern und Kind besser als das Zusammenleben in einer großen Gruppe. Meinen Partner konnte ich zu einem Leben in einer kleinen Wohnung zu dritt und mit wenig Ablenkungen und Reizen überzeugen.

Auch Christines Leben hatte sich verändert: sie war nach ihrem Aufenthalt in England nicht wieder in ihr Zimmer eingezogen und führte über Jahre ein Leben losgelöst von der Fabrik. Wir waren beide anderweitig beschäftigt und hatten uns etwas aus den Augen verloren. So wie das manchmal ist in dieser großen Stadt.

Viele Jahre und Umzüge später haben wir uns dann in der Regenbogenfabrik wieder getroffen. Sie kam aus Stuttgart wieder zurück in die Fabrik und ich wurde mit meinen Kindern ein gern gesehener Gast im Kinderkino. Wie viele Stunden haben wir dort verbracht. Sonntags nach dem Schwimmbad, reingekuschelt in die Sofas, versorgt mit kleinen Naschereien, haben wir viele schöne Filme gesehen. Diese Stunden werde ich nie vergessen. Und Schritt für Schritt konnte der Kontakt zu Christine wieder aufgebaut werden.
Mit Anette Schill, die viel zu früh verstorben ist und all den anderen Aktiven schaffte es dieses große Projekt durch alle Stürme, finanziellen Sorgen und kiezspezifischen Schwierigkeiten.

Bedingt durch Krankheit gab es dann einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben. Immer gehalten und getragen durch ihren Partner und den vielen Freund:innen in der Fabrik initiierte sie ein weiteres Projekt: den Traum vom Wandern in einer Gruppe von Vertrauten und Freund:innen in Berlin und Brandenburg. Anfangs organisierte Christine gemeinsam mit ihrem Partner die Routen einmal im Monat. Als sich die Gruppe vergrößerte, suchten auch andere Wanderlustige die Routen aus. Ich näherte mich diesem Freizeitprojekt sehr langsam.
Ich ging einige Strecken mit und mochte vor allem die schönen Routen im Frühling und Herbst in Brandenburg. Allerdings traute ich mich nicht, eine eigene Strecke anzubieten, da es um meinen Orientierungssinn leider nicht gut bestellt ist. Auch heute noch bin ich unsicher, muss Strecken oft zweimal ablaufen, um mir halbwegs sicher zu sein. Es ist dann aber immer ein schönes Gefühl, etwas richtig Schönes für sich selbst und Andere geschafft zu haben.

Hier schließt sich der Kreis dieser kleinen Geschichte über die Regenbogenfabrik, das Wohnhaus und meiner Freundschaft zu Christine, die wir immer sehr behutsam angehen wie etwas sehr Zerbrechliches, was wir schützen und behüten wollen. Es gibt mir ein gutes Gefühl, mit Christine und der Gruppe zu wandern, neue Orte zu erkunden und liebgewordene Orte wieder neu zu entdecken. Beim Wandern lässt es sich wunderbar miteinander reden – und schweigen. Wir tauschen Rezepte und Alltagsgeschichten aus und am Ende gibt es ein gutes Essen oder Kuchen und Kaffee.

Weggehen, um anzukommen: in der Regenbogenfabrik bin ich angekommen, hier kann ich mich entspannen und den Akku wieder aufladen, den Alltagsstress hinter mir lassen, Kinder beobachten oder ein gutes Gespräch mit Christine und Anderen führen. Christine ist eine wichtige Freundin für mich. Sie zeigt mir nicht den Weg, sie geht ihn mit mir.

Liebe Christine, liebe Regenbogenfabrik, ich danke Euch für viele Jahre kultureller und politischer Heimat.

Herzlich Elke

Das Foto entstand auf dem Kunstwanderweg auf dem Weg nach Bad Belzig im Mai 2021