Weiße Wand: eine Auseinandersetzung mit Privilegien im Kontext der Flüchtlingskrise

In Europa ist das Thema der Flüchtlingskrise vielleicht die wichtigste Herausforderung der letzten Jahrzehnte. Die Meinungen gehen darüber heftig auseinander und die Spaltung zwischen wachsender Fremdenfeindlichkeit und kämpferischer Solidarität wächst mit jeder neuen Fluchtbewegung und jedem Skandal. Gewalt gegenüber Leuten mit Migrationshintergrund ist leider immer aktuell und Rassismus kann auch nicht ständig als Einzelfall entschuldigt werden. Ja, es gibt immer wieder Verbesserungen mit der Zeit.
Aber zu ignorieren, dass die Lage immer noch nicht mal ein bisschen gut ist, wäre komplett blind und dumm. Wer keine Meinung dazu hat, hat wohl keine Fernsehsendung, keine Reportage, keine Radioshow, keinen Film, keinen Tweet und keinen Post seit langem gesehen.

Und wohl auch keine moderne Musik gehört. Weil das Thema der Flüchtlingskrise tatsächlich ein richtiges Leitmotiv der heutigen deutschsprachigen Musik ist. Ich denke an Lieder wie Schüsse in die Luft von Kraftklub, mit relevanten Sätzen wie „gib die Schuld ein paar ander’n armen Schweinen/Hey, wie wär’s denn mit den Leuten im Asylbewerberheim“, oder an das Lied Zuhause von Feine Sahne Fischfilet und Mittelmeer von Mal Elevé. Beides Lieder, die der Parole „Kein Mensch ist illegal“ eine Plattform geben. Das Lied Wer nicht schwimmen kann der taucht vom Schweizer Sänger Faber setzt sich in der Perspektive eines Rechtsextremisten um die Nachricht weiterzubringen. Das Lied Fair von Nura, prangert zur selben Zeit den Aufstieg der Rechtextremen in politischen Kreisen an, der mit nicht so viel Angst gesehen wird, wie die Ankunft von Flüchtlingen.

Wo stehen wir Europäer in dieser Krise? Was ist unsere Rolle, wer wollen wir sein? Diese Fragen sollten sich mehr Leute stellen, um am Grunde unserer Denkweise anzukommen, um uns mit uns selbst, unseren Wertschöpfungen und ihrem Ursprung zu konfrontieren.

Dazu schrieb die Band AnnenMayKantereit aus Köln 2018 für ihr Album Schlagschatten das Lied Weiße Wand, es ist ein Kommentar zur aktuellen Flüchtlingssituation in Deutschland.
Was ich hier besonders interessant finde, ist die richtige Auseinandersetzungsarbeit, die die Band über ihre eigenen Privilegien leistet. Die Zeile „Flüchtlingskrise fühlt sich an wie Reichstagsbrand“ stellt erstmal die aktuelle Krise als polarisierende Frage quer durch Europa der Periode des Naziaufstiegs gegenüber, wo der Reichstagsbrand als kritischer Anfangspunkt des rechtsextremen Machtaufschwungs gesehen wird und wo Menschenrechte auch mehr und mehr in Frage gestellt wurden. Sie warnen also vor den Konsequenzen der Passivität normaler Bürger gegenüber dieser Menschenrechtskrise.
Es ist einfach, die Situation als „nicht unser Problem“ zu sehen, denn teilweise findet es weit weg von unserer Realität statt und Politik kann im Kontext von scheinheiligem diplomatischem Geschwätz sehr fern vom eigenen Alltagsleben scheinen. Es stellt indirekt die Frage „Was hättest du `33 gemacht? Und was machst du jetzt, wo die Situation ähnlich gefährlich sein könnte / ist?“

Der titelgebende Begriff der Weißen Wand steht für mich als umgekehrte Gläserne Decke des weißen Privilegs: statt Hindernisse durch manche Merkmale zu erleben, verhindert die Weiße Wand, dass wir ein wirkliches Verständnis von der schlimmen Situation der Flüchtlinge erreichen. Wenn man anfängt zu verstehen, wie diese Weiße Wand unsere Weltperspektive und unser Leben als privilegierte Person beeinflusst, kann man anfangen, dieses Verständnis aufzubauen.
Im Lied setzt sich der Sänger länger mit diesem Konzept auseinander, erkennt seine Position zum Thema und teilt diese mit uns.

Er sieht sein „weißes Privileg“ ein und stellt sich selbst Fragen über seine Stellung als Europäer in dieser Krise: „Ich bin jung und weiß in ’nem reichen Land“ und „Ich fahr‘ schwarz in ’nem weißen Land / Das man nicht mit jedem Pass bereisen kann“. Durch seine Hautfarbe und westliche Abstammung wird er nie so viel Ungerechtigkeit in diesem Land kennen, wie eine Person mit Migrationshintergrund. Die Strenge der Grenzen ist auch nicht ein Problem, den er mit seinem deutschen Pass erleben wird.

Diese Perspektive habe ich mittlerweile auch gefunden und bearbeitet. Ich finde es so wichtig, nicht nur über die eigenen Probleme nachzudenken, sondern auch über die Probleme, die man nie erleben wird, weil man über ein gewisses Privileg verfügt. Ich bin auch weiß in einem weißen Land und werde manche Herausforderungen nie komplett verstehen, aber durch Empathie und Willen kann man zumindest versuchen, die Welt gerechter zu machen und dieses Privileg mit der Zeit zu vernichten.
Musik hat mir persönlich auch viel dazu beigebracht. Manchmal klappt ein bisschen Poesie besser als strikter Unterricht.

Charlotte