Fortsetzung von Marias Geschichte, die am 28. März begann:
Schon als Kind konnte ich nicht verstehen, wieso alle über sie in Verzückung gerieten.
In meiner Kindheit und Jugend war Corona noch ferne unerahnte Zukunft und dennoch stand der obligate familiäre Spaziergang unaufhaltbar auf dem Sonntagprogramm. Womöglich mag ich seit jenen Tagen das Spazierengehen nicht besonders. Wandern ja, aber Spazieren? Gut, damals wusste ich noch nichts von Lucius Burckhardts Spaziergangswissenschaften. Die Kenntnis jener änderte zumindest meinen Blick aufs Spazieren, nicht aber auf den Spaziergang selbst.
Der einzige Trost, das Einzige, was mich dann in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dann doch jeden Sonntag friedlich und fröhlich mitgehen liess, war die Aussicht auf das Ausklingen der langweiligen Spaziergänge im Café Zimmermann, der ersten Konditorei am Platz meiner Geburtsstadt St.Gallen.
In eben jener Konditorei, die mir wie das reinste Paradies erschien, gab es die köstlichsten Kuchen und Torten.
Zu meinem Leidwesen war für mich und meine ältere Schwester immer ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte vorgesehen. Erst als Jugendliche gelang es mir diesen unverrückbaren Automatismus abzustellen. Geschmacklich konnte ich der Schwarzwälder Kirschtorte durchaus was abgewinnen. Aber wieso mussten diese eingelegten Kirschen den Genuss trüben? Klar das Rausklauben der Kirschen war nicht ganz so aufwendig und peinlich, wie es die Rosinenpulerei beim klassischen Gugelhupf war.
So fanden wir uns also nach dem ungeliebten Spaziergang durch Feld, Wald und Wiese im angesagtesten Café der Stadt. Ich drückte mir die Nase platt an all den unglaublichen Kreationen, die, Kunstwerken und Miniskulpturen gleich, geschützt hinter Vitrinen, in ihrer Buntigkeit mein Begehren weckten. Nicht nur die Kuchen, Torten und Canapés (für die jüngeren Leser*innen: Canapés sind edel belegte Toastbrotschnittchen und werden auf Spiegel-, Glas- oder Silberplatten sortenrein angerichtet) waren von erster Güte, auch das Interieur zeugte von noblem Luxus. 1912 wurde in dem Gründerzeitgebäude eine Bäckerei eingerichtet, 1920 eröffnete Ernst Zimmermann darin zusätzlich sein Café Zimmermann.
Die aussergewöhnliche Innenausstattung aus seltenem Vogelaugen-Ahorn und den Sitznischen stammt aus den 1930er Jahren und wurde von einer Appenzeller Schreinerei handgefertigt. Dieses rotgoldene Täfer war poliert und erinnerte mich an edlen Marmor. Lange Perserteppiche, dunkelrot und hellgrün gepolsterte Ledersessel, Wandleuchten, filigrane Garderoben und eine hölzerne Telefonkabine vervollständigten dieses Kleinod an Konditorei Café. Eine solche historische Ausstattung wäre heute unbezahlbar. Sie wirkt noch heute grossstädtisch.
Damals wusste ich noch nichts von Schichten, Klassen oder soziologischer Segregation. Aber in kindlicher Feinfühligkeit erkannte ich die Unplatziertheit meiner proletarischen Familie in diesem St.Galler Unikat. Mein sizilianischer Gastarbeitervater und wir gehörten hier nicht hin. Alles wirkte reich in seiner schicken Wohlgeformtheit. Aber zugleich fühlte ich mich wohl in dieser schönen, mir fremden Welt. Vielleicht stammte mein Wunsch aufzusteigen, genau von diesen Besuchen im Café Zimmermann her?
Für meinen Vater und meinen viel älteren Bruder wurde immer Zuger Kirschtorte bestellt. Eine in ihrer Schlichtheit dennoch manieriert wirkende Torte, die so gar nicht zu einem sizilianischen Arbeiter zu passen schien. Wenn Reste der rosabepuderten Sahne sich im Oberlippenschnauzer meines Vaters verfing, sah er nicht wie ein Arbeiter aus, eher wie ein attraktiver schwuler sizilianischer Filmschauspieler. Und ich kicherte. Ich kicherte auch, wenn es mir gelang, die eine oder andere Gabel dieser kirschgetränkten Torte zu erbetteln. Es war wohl der Kirsch, der diese Torte zur Herrentorte machte.

Maria ist noch nicht fertig mit ihrer Erzählung. Freut euch auf eine Fortsetzung am 16. Juni 2021